2. Bundesliga
Spieltag 19 - 17. Dezember 2012

Eintracht Braunschweig - 1. FC Union Berlin 4:3 (2:2)
Keine Fußballspiele in Ruhe gucken will... Holger (Eiserner Messias)

Der „fußballzentrierte Fan“ nach Heitmeyer knüpft nicht selten Punkte der eigenen Biographie an Ereignissen rund um den Fußballsport. So nutzt er diesen als strukturierendes Element des Alltags. Habe ich neulich im Zuge des Literaturstudiums anlässlich meiner Bachelor-Thesis gelesen, während ich zeitgleich verwundert festgestellt habe, dass ich doch gerade erst noch in Paderborn bei Minus 18 Grad gefroren habe, von Aachen nach Belgien spaziert bin, im Karlsruher Frühling Sonne getankt und im Ingolstädter Spätsommer tierisch geschwitzt habe, um dann kurz darauf den Herbst in Hamburg zu erleben, ehe in Regensburg schon wieder Winter war. Ist das Jahr also tatsächlich schon wieder um? Diese fußballzentrierten Menschen haben es schon echt nicht ganz leicht...

Und jetzt steht also bereits die Jahresabschlussfahrt nach Braunschweig ins Haus. Weil uns die DFL und deren Spielplanmacher so doll lieb haben, dürfen wir wieder einmal werktags spielen. Zum 12. Mal im Jahre 2012 – exklusive DFB-Pokal. Wer möchte alles ein i kaufen und lösen? Schnell steht übrigens auch fest, dass wir als bekennende Zugfahrer dieses Mal auf unser favorisiertes Fortbewegungsmittel verzichten müssen. Jetzt nur nicht den Kopf in den Sand stecken. Es hat noch immer eine Lösung gegeben. So kommt es im Jahr 2012 noch zu einer späten Premiere: Das erste Auswärtsspiel im Auto. Wobei Auto irgendwie untertrieben erscheint. Es handelt sich eher um ein Schlachtschiff, welches unser Fahrer (der mit dem bunten Hemd an) gegen 13.00 Uhr auf den Parkplatz am S-Bahnhof Schöneweide in die Parklücke wuchtet. Nissan Pathfinder. Mit dem Teil kannst du zur Not auch noch eine Herde Elefanten überrollen, sollten diese wider Erwarten plötzlich wie aus dem Nichts heraus die Autobahn überqueren wollen. Gibt sicherlich auch 'n Knopf dafür, dass man das mit Augen zu erledigen kann.

Oder nennen wir das Ding einfach Raumsonde. Ja, Raumsonde Pathfinder. Passt doch auch irgendwie ganz gut. In weniger als zweieinhalb Stunden spaceshuttled die Pathfinder ihre ausserirdisch charismatische Besatzung im klassischen 2-3-2-System in die Löwenstadt. Die Verteidigung um Timsn und den Reiseleiter fällt während der Fahrt in erster Linie durch kniegewärmte Ohren auf, während der zentral im Mittelfeld agierende Spreewaldschurke durchschnittlich alle 19 Minuten Opfer seiner tennisballgroßen Blase wird. Linksaußen referiert Schmolke abgeklärt über Vorhautverengungen und auf der gegenüberliegenden Seite agiert der Auswärtsrookie heute eher unauffällig, während sich der Fürst von Lichtenberg vorne mit dem kleinen Saubär vergnügt. Als Autofahrnovizen freuen wir uns über spektakuläre Rastplatzverordnungen und entfernen Sticker ungeliebter Rivalen, um sie an aussagekräftigeren Plätzen wieder zu befestigen. Dazu Bier.

In Braunschweig angekommen gehen wir erst einmal kegeln. Klar, warum auch nicht. Beim Tannenbaumkegeln liegen die beiden konkurrierenden Teams lange Zeit gleich auf. Dann droht die Lage plötzlich zu eskalieren, als die Kontrahenten beginnen, sich mit feuchten Schwämmen zu malträtieren. Besonders perfide agiert der Fürst, der seinen Bruderschurken beim manuellen Wiederaufbau der Bahn kurzerhand über den Haufen kegelt. Lustig. Ob das nach Heitmeyer bereits als „Erlebnisorientierung“ zu werten wäre, versuche ich dann in den kommenden Tagen zu eruieren. Die Kegelomas von rechts verdrehen derweil die Augen und fauchen herüber: „Etwas moderater!“. Wir wissen nicht, was genau wir moderieren sollen und bestellen mangels Alternativen noch ein Wolters, welches wir nach und nach mit echtem Bier wieder auffüllen. Nach etwas über einer Stunde ist der Spaß dann vorbei. Der Schurke hat doch tatsächlich alle Neune abgeräumt. Sensationell. Zur Feier des Tages geht er erst einmal auf's Klo. Ob er dabei „We Are The Champions“ ins Urinal geträllert hat, ist nicht übermittelt, zumindest aber anzunehmen.

Fein, wäre das also auch erledigt. Gemütlich, gemächlich machen wir auf in Richtung Stadion und sichern uns frühzeitig einen Stehplatz im später proppevollen Gästeblock. Ein bisschen mehr als 2000 Unioner werden es am Ende schon gewesen sein, die Zeugen des historischen Untergangs der Fankultur in Braunschweig werden mussten. Dazu aber später mehr. Jetzt haben wir erst einmal Platz Vier im Visier und stellen Gedankenspiele an, wie das wohl wäre, wenn wir auch hier heute noch etwas mitnehmen könnten und plötzlich als Aufstiegsaspi... Erinnern uns aber schnell daran, dass wir das das letzte Mal in Fürth gemacht haben und dass wir daraufhin denkbar knapp mit null zu kannichmichnichtmehrdranerinnern verloren haben.

Gut 20 Minuten vor Spielbeginn supporten die Braunschweiger Ultras lautstark, mit viel Fahneneinsatz und einer sehr ansehnlichen Pyroshow. Der Stadionsprecher gibt zu bedenken, dass „viele Kinder das Spiel in Ruhe (!) sehen wollen“ und daher der Einsatz von Bengalos verboten sei. Der erste verbale Schlag in den Magen saß. Ein Fußballspiel in Ruhe gucken. Aua weh.

Pünktlich zum Anpfiff begann der harte Kern der Braunschweiger Fanszene wie angekündigt mit dem Schweigen und zog dies auch über die volle Distanz des Spiels durch. Unsere Kurve schloss sich in den ersten 12 Minuten und 12 Sekunden dem abermaligen Protest an. Leider zeigte sich ein Großteil des Braunschweiger Sitzplatzpublikums mit diesem Vorhaben alles andere als solidarisch und unterwanderte den Protest. Wir können das auch ohne Ultras – werden sich die Herrschaften links und rechts von uns gedacht haben, erhoben sich von ihren Plätzen, klatschten hier ein bisschen in die Hände, sangen da die Gassenhauer der 80'er Jahre voller Inbrunst mit, skandierten „Ultras raus“ und setzten später zur Verhöhnung aller echten Fußballfans zur La Ola an. 1986 in Mexico-City vielleicht noch ganz schmissig, Status Quo jedoch: Eventgruselkacke. Für das Komplettpaket der Grausamkeiten erntete das Braunschweiger Publikum unsererseits gellende Pfiffe, Hohn und Spott gab es dann angesichts der 10 Minuten vor der Halbzeitpause einsetzenden Massenpanik, in Zuge welcher sich das Tennispublikum zum Häppchen fassen aufmachte.

Für all diejenigen, die bisher das Gefühl hatten, dass das mit dem DFL-Sicherheitskonzept doch so schlimm gar nicht sei, wurde hier der eindrucksvolle Gegenbeweis angetreten. Wenn das die Zukunft des Fußballs ist, wenn das die Zukunft des Fußballpublikums ist, dann: gute Nacht, Fußballkultur. Es war einfach nur verdammt traurig, schockierend und unfassbar zugleich, mit ansehen zu müssen, wie schnell sich eine Fanszene spalten und sich vor eine Zerreißprobe stellen lässt. Und das nicht etwa in Aalen, Sandhausen oder Ingolstadt, sondern in Braunschweig. Einer Fußballstadt mit langer Tradition. Am Arsch geleckt, ihr solltet euch was schämen! Die Proteste gegen das Sicherheitskonzept sind doch kein Ultra-Thema, verdammt noch mal. Das geht alle etwas an, die den Fußball in seiner bisherigen Form lieben, völlig egal ob man sich selbst als erlebnisorientierter, fußballzentrierter oder konsumorientierter Fan (blabla nach Heitmeyer) bezeichnen würde. Sicheres Stadionerlebnis, ein Fußballspiel in Ruhe gucken, mir kommt das Kotzen.

Schön mitzuerleben war indes, wie unser Block wieder einmal ein feines Näschen bewies und ein gutes Gespür für die Situation hatte. Es versetzt mir immer wieder einen Kick, wenn man feststellt, wie eine so große und an sich unüberschaubare Masse an Menschen als Einheit reagiert. Wenn man spürt, dass alle das Empfinden haben, dass das Sicherheitskonzept hier in Braunschweig bereits ein solides Fundament für den Aufbau eines neu zusammengesetzten Publikums darstellen könnte. Wenn man spürt, wie die Masse intuitiv versucht, diese Eventstimmung vom Band (sogar nach den Toren) zu konterkarieren. Wenn alle an einem Strang ziehen und die Gesänge noch lauter, noch adrenalingeschwängerter daherkommen, wenn der Block geschlossen hüpft, wenn man 2000 Sprechblasen mit „JETZT. ERST. RECHT.“ füllen und über den Köpfen der Leute aufhängen könnte, dann ist das für mich schlicht und ergreifend Fußball. Nein, falsch, nicht Fußball, es ist mein Lebensgefühl Union.

Und ich hoffe, dass das noch sehr lange genauso von mir miterlebt werden kann. Wir sind in der glücklichen Situation, in Frankfurt nicht von den eigenen Leuten verraten worden zu sein. Wir haben es in der Hand. Eisern!

PS: Ja. Es wurde auch Fußball gespielt. Es war sogar ein sensationelles Spiel. Hochklassig, rassig, schnell - mit zwei Mannschaften (beinahe) auf Augenhöhe. Das hat Spaß gemacht und die ganze Sache natürlich emotional noch einmal gepushed. Adam Nemec hätte ein mehrseitiges Loblied verdient. Und Frau Karl freut sich sicher auch über Teroddes Rückpass. Grüße an all die Menschen, die Auswärtsfahrten wie diese zu Auswärtsfahrten wie diese machen. Frohe Weihnachten und einen guten Rutsch!

 

Tore: 0:1 Nemec (4.), 1:1 Kumbela (11.), 1:2 Nemec (32.), 2:2, 3:2 Kumbela (44., 58.), 4:2 Boland (74.), 4:3 Quiring (91.)
Zuschauer: 21.200
Schiri: Peter Sippel

Braunschweig: Davari, Bicakcic, Kessel, Reichel, Correia, Boland, Bohl, Zhang, Pfitzner (86. Merkel), Ademi, Kumbela
(92.-93. Henn)

1. FC Union Berlin:
Haas, Stuff, Pfertzel (64. Menz), Kohlmann, Schönheim, Quiring, Karl, Parensen (82. Trapp), Terodde, Silvio (72. Skrzybski), Nemec

Zeigt her eure Hände, zeigt her eure Schuh - und sehet den fleissigen Ordnungskräften zu...

04:20

12:13

Dank an Holger für Bericht und die oberen Bilder.